Kreation und Depression
Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus
Ist Freiheit im Kapitalismus möglich?
Ich mag es, wenn schwierige Bücher funktionieren wie das Gleichnis von den Blinden und dem Elefanten. Sie kennen das? Eine Gruppe von Blinden untersucht einen Elefanten – jeder einen anderen Körperteil – Flanke, Stoßzahn, Ohr, Bein, Rüssel. Dann vergleichen sie ihre Erfahrungen und stellen fest, dass jede zu einer unterschiedlichen Schlussfolgerung führt. Aber zusammen ergibt sich doch ein Bild.
Dieses Buch sind fasst Texte von 16 Menschen zusammen, viele Beiträge aus Soziologie und Philosophie, aber auch Betriebswirtschaft, Dramaturgie, Psychologie, Kunst- und Kulturwissenschaft. So entsteht ein umfassendes Bild des in der Dunkelheit stehenden „Tieres“, das hier ein gesellschaftlicher Zustand und dessen Entstehung ist: „Es scheint, dass sich Einstellungen und Lebensweisen, die einmal einen qualitativen Freiheitsgewinn versprachen, inzwischen so mit der (...) Gestalt des Kapitalismus verbunden haben, dass daraus neue Formen von sozialer Herrschaft und Entfremdung entstanden sind“ (Menke/Rebentisch).
Es wird untersucht, wie die Forderungen nach „Autonomie und kreativer Selbstverwirklichung für alle“ erfolgreich in neue Ausbeutungswerkzeuge umgewandelt wurden.
Die Entstehung der heutigen „Kontrollgesellschaften“ wird nachvollziehbar, in denen Fabriken von Unternehmen abgelöst wurden und „man uns beibringt, dass die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die größte Schreckensmeldung der Welt ist. Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle und formt die schamlose Rasse unserer Herren“ (Gilles Deleuze). Freche, innovative, provokant Werbung für Produkte, die ihre Nutzer frech, innovativ und provokant machen sollen – „Freiheit“ durch Kaufen und Verkaufen von immer neuen „Revolutionen“.
„Der Kapitalismus fordert zu seiner Erhaltung Menschen, die ihm subversiv begegnen, die Widerstand gegen sein gnadenloses Kalkül leisten und endlich die Einlösung des Glücksversprechens vorantreiben. Nur solche Leute können heute noch Geschäfte machen“ (Carl Hegemann). Das ist zum Verzweifeln. Ist Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus überhaupt möglich?
Hier bietet der zweite Teil des Bandes einige Vorschläge. Begriffe tauchen auf und werden verständlich: Genie und Wahnsinn, Innovationsgymnastik, Muße versus Beschleunigung, Distanz zum Handwerk, Massengefälligkeit oder Verweigerung, Vernetzung, Verzicht auf Sichtbarkeit um jeden Preis, Ekstase als Gegengift …
Ich empfehle dieses Buch allen, die die Entwicklung der letzten dreißig Jahre besser verstehen wollen, und die ihre eigenen alternativen oder kreativen Positionen vor diesem Hintergrund kritisch zu hinterfragen bereit sind.
Andreas Kothe
Überblick
Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hrsg):
Kreation und Depression
252 Seiten, broschiert
Kulturverlag Kadmos: Berlin 2011
978-3-86599-126-3, 19,90 €